»Man muss dem Licht bei der Arbeit zuschauen. Es ist das Licht, das erschafft. Ich sitze vor einem Blatt lichtempfindlichen Papier und denke«

Man Ray

Wege des Lichts

von Prof. Dr. Christoph Schaden

In einem ersten Impuls mag man die Bildschöpfungen des vorliegenden Bandes aus ihrer Medialität zu greifen suchen. Das hat gute Gründe. Schließlich handelt es sich um Foto­grafien, Resultate eben jenes denkwürdigen Verfahrens, dem schon zum Zeitpunkt seiner Erfindung attestiert wurde, dass diesmal das Licht selbst zur Künstlerin geworden sei.

Im Wort­sinn sei die Photo­Graphie denn auch nichts anderes als eine Licht­Schrift, hieß es früh. Eine »Kunst, in der das Licht selbst seine eigene Metapher« hervorgebracht hat. Es verwundert nicht, dass der neuen Bildspezies recht früh eine Mythologie zugeschrieben wurde. Hierin erwies sich die Sonne als Garant einer naturhaften Authentizität, einem Selbstausdruck äh­nelnd, der sich in seinen fixierten Lichtstrahlen nun gleichsam zu bannen verstand. »Die Licht­Schrift der Photographie war daher eine Form von natürlicher Sprache, die die Wahrheit des Abgebildeten garantierte«, schreibt Bernd Stiegler. Man konnte ihr also glauben.

Es ist bezeichnend, dass sich der Offenbarungscharakter der Fotografie bis heute nie ganz verflüchtigt hat. Als eine Lichtgottheit, die sich in einer magischen Spur selbst bezeugt und derart Beweise ihrer Schöpfungskraft hinterlässt, mögen
die Fotografien unserer Tage zwar nicht mehr betrachtet werden. Dennoch sind wir weiter auf sie angewiesen, wenn es darum geht, das Universum in seinen unendlichen Facetten zu lesen. Um es im wahrsten Sinne wahr zu nehmen. Als Mittel der Welterkennung bleiben fotografische Bilder weiter probat.

Vor der skizzierten Folie generiert sich das Projekt Stella Polaris * Ulloriarsuaq als ein ambitioniertes Unterfangen, das vielschichtig unsere Erkenntnispfade gegenüber der Foto­grafie aufzunehmen versteht. Einerseits geben sich die Lichtbil­der nämlich in ihrer farbästhetischen Gestalt unmittelbar als Artefakte zu erkennen. Andererseits verweisen sie ganz unum­wunden auf ihr Motiv. Entstanden an den vermeintlichen Peripherien der grönländischen Küstenregion, bezeugen die fotografischen Arbeiten von Nomi Baumgartl und Sven Nieder jene eisigen Naturszenerien, die längst von kollektiven Vorstellungsbildern überdeckt sind. Die Rede ist von tradierten Imaginationen, die gleichermaßen geprägt sind von den Faktoren des unwirtlichen Lebensraumes und des ewigen Eises. Wie wäre es, dort leben zu müssen? Oder nur zu sein? Und war es dort nicht schon immer so?

Ein Unbehagen, das uns gegenüber den überholten Klischees in unseren Köpfen befällt, mag Kenntnissen geschuldet sein. Denn angesichts des dramatischen Klimawandels unserer Tage stellt sich die Frage, ob Bilder wie diese überhaupt noch rechtens seien. Mit Nachdruck bejahen die fotografischen Eislandschaften in diesem Band sie auf eine hochästhetische Weise. Die Fotografien beharren geradezu auf eine Schönheit »trotz allem«, doch tun sie dies ohne falsches Sentiment. Als bloße Zeugnisse einer bedrohten, ja todgeweihten Naturlandschaft wollen sie eben nicht wahrgenommen werden. Zu Hilfe kommt ihnen das Licht. Die Geschichte ist einfach erzählt. Unter dem nächtlichen Sternengebirge der Eisregion luden Baumgartl und Nieder eine Schar grönländischer Einwohner ein, selbst einmal die Rolle des Lichtgebers einzunehmen. So manches war von spontanen Gesten und Augenblicken geprägt, vieles von Zufall und lustvollem Kontrollverlust. Umso bemerkenswerter ist, dass erst die von Menschen geworfenen Lichter der farbigen Scheinwerfer den Blick auf die gewaltigen Eislandschaften ermöglichten. In der Summe legen sie eine Ästhetik frei, der mit dem Schlagwort der »Lichtmalerei« nicht beizukommen ist. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess der Einschreibung, der eben nicht im Sinne einer Besitznahme zu verstehen ist. Sondern als ein glaubwürdiger performativer Akt des Weltzugangs.
Einst forderte Man Ray, dass man dem Licht bei der Arbeit zuschauen müsse. Der vorliegende Bildband veranschaulicht, dass es hierbei mitunter ganz eigene Wege beschreiten kann.

Schmelzt das Eis in euren Herzen

Dr. Christoph Quarch über Angaangaq Angakkorsuaq

Die Weisheit, die er kündet, stammt aus der tiefsten Seele seines Volkes. Die Ältesten hatten angaangaq dazu berufen, hinaus zu gehen in die Welt, um den Menschen zu berich­
ten, was in Grönland geschieht: dass das große Eis schmilzt und dass die Welt im Wandel ist. Die Menschen aber wollten gar nichts davon hören. Sie applaudierten wohl den glühenden Worten des jungen, SNieder_140722_0180_webeloquenten Eskimos, jedoch berühren ließen sie sich nicht von ihm. Verzagt kam er zurück zu seiner Mutter. Sie hörte, was dem Sohn da draußen in der Welt geschehen war. Und dann, dann sprach sie diese Worte, die aus der tiefsten Seele ihres Volkes kamen – und die angaangaq seither tief im Herzen brennen: »Sohn, du musst lernen, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen! Nur indem wir das Eis in den Herzen des Menschen schmelzen, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden.«

Angaangaq lebt für diese Botschaft. Wohin er kommt – er bringt sie mit. Nicht nur in Worten, auch in Taten. Er kommt als Bote und Schamane einer Kraft, die ihn von innen her durch­ dringt. Es ist die Kraft, die man in seiner Welt das heilige feuer nennt: das Feuer der Liebe, das wie nichts sonst das Eis
in Menschenherzen schmelzen lässt. So war es mehr, viel mehr, denn eine schöne Zeremonie, als er im Juli des Jahres 2009 Schamanen und Älteste aus allen Teilen unserer Erde in seine Heimat, nach Grönland bat – um dort am Fuße der gigantischen und doch schmelzenden Eismassen eine alte Prophezeiung seines Volkes zu erfüllen: die Rückkehr des heiligen feuers. Jahrtausende hatten die Menschen der Arktis darauf gewartet, ein Feuer vom Holz in Grönland wachsen der Bäume entfachen zu können. Doch Jahrtausende lang war dies nicht möglich. Erst 2009 war es so weit – als Zeichen dafür, dass eine neue Weltzeit begonnen hat: eine Ära, in der die Mensch heit in Not gerät – eine Not, aus der sie sich nur retten wird, wenn sich die Menschen angaangaqs Botschaft zu Herzen nehmen; überall auf der Welt. Denn seine Botschaft gilt uns allen: Gebt der Liebe Raum! Schmelzt das Eis in Euren Herzen.

Das Buch

Stella Polaris Ulloriarsuaq
Das leuchtende Gedächtnis der Erde

Von Nomi Baumgartl, Sven Nieder,
Yatri N. Niehaus und Laali Lyberth

Kunstdruckband im wasserlosen Offset auf feinstem Fedrigoni Tatami und Arcoprint Milk gedruck.

Fotografiert in Grönland.
184 Seiten
24 x 34 cm
45 Großformatige Lichtkunstwerke in Farbe
23 S/W Fotografien im Duplexdruck

Eifelbildverlag, Daun
Erstauflage
ISBN deutsch: 978-3-9814113-3-1
ISBN englisch: 978-3-9814113-4-8

[Buch bestellen]